- Konstruktivismus, Suprematismus, De Stijl: Ungegenständliche Welten
- Konstruktivismus, Suprematismus, De Stijl: Ungegenständliche WeltenDie bildende Kunst des zweiten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts war reich an Experimenten, die auf eine Loslösung von der gegenständlichen Malerei zielten. Unter ihnen fasst der Konstruktivismus die aus der geometrischen Abstraktion hervorgegangenen Bestrebungen zusammen, die sich besonders in Russland, aber auch in anderen Teilen Europas herausbildeten. Die konstruktivistischen Tendenzen in Ost- wie Westeuropa erhoben einen umfassenden gestalterischen Anspruch auf alle Gebiete des Alltags und hofften damit die engen Grenzen der Kunst zu überwinden. Wegen ihrer utopischen Ausrichtung mussten sie jedoch letztlich scheitern. Dennoch verdankt ihnen die Kunst des 20. Jahrhunderts viele und weit reichende Anregungen.Impulse gaben der russischen Avantgarde besonders zwei außergewöhnliche Künstler: Wladimir Tatlin und Kasimir Malewitsch. Getrieben von der Idee absoluter plastischer Harmonie, beschäftigte sich Tatlin vornehmlich mit der Ästhetik von dreidimensionalen Gebilden, die er mit realen Materialien im Raum konstruierte. Abweichend von den kubistisch-futuristischen Varianten Michail Larionows und dessen Frau Natalija Gontscharowa, ging Tatlin bei der Gestaltung seiner abstrakten Materialreliefs aus Holz, Metall, Glas, Pappe, Draht und Seil nach dem Prinzip der Collage vor, das er 1913 bei einem Aufenthalt in Paris kennen gelernt hatte. 1915 entwickelte er diese Arbeiten zu Hängekonstruktionen weiter, die er auf Raumecken bezog. Das Gestaltungsprinzip dieser »Kontra-Reliefs« bezeichnete Tatlin ausdrücklich als »Konstruktivismus«. Später ging er zu funktionalen Entwürfen komplexer Architekturen über: 1919/20 entwickelte er das »Monument für die III. Internationale«, das nie verwirklichte Modell einer doppelt geschraubten, mehrere hundert Meter hohen Konstruktion mit vier verglasten Raumkörpern, die sich entsprechend dem Tages-, Monats- und Jahresverlauf um die eigene Achse drehen konnten. Mit Tatlins »Ingenieurkunst« wurde die Konstruktion Gegenstand eines auf Anwendbarkeit zielenden formbildnerischen Denkens, das - im Gegensatz zu den spielerischen Elementen im Dadaismus - überaus ernsthaft verfolgt wurde.Die zweite Anregung kam von Tatlins Gegenspieler Malewitsch. Zur gleichen Zeit wie Tatlin arbeitete er an den theoretischen Grundlagen seiner Bildwelt der reinen Gegenstandslosigkeit, die er 1915 »Suprematismus« nannte. Aufmerksamkeit erregte er darüber hinaus durch ideologische Polemiken und theoretische Manifeste. 1915 zeigte er in der Ausstellung »0,10« in Petrograd erstmals suprematistische Kompositionen, darunter auch sein berühmtes Bild »Schwarzes Quadrat auf weißem Grund«, die »nackte, ungerahmte Ikone meiner Zeit«. Dieses programmatische Gemälde wurde von der Kritik mit Unverständnis, von den zeitgenössischen Künstlern dagegen mit Enthusiasmus aufgenommen. Ihnen war es der Schlüssel zu einer noch unbekannten, im eigenen inneren Sein verborgenen, ungegenständlichen Welt, die es von nun an zu entdecken galt. Im Zuge der Oktoberrevolution sprach man ihm sogar einen radikalen politischen und gesellschaftlichen Gehalt zu.Anlässlich der Ausstellung »0,10« erschien auch Malewitschs Manifest »Vom Kubismus zum Suprematismus. Neuer Realismus in der Malerei«, in dem er den Begriff »Suprematismus« erläuterte: »Unter Suprematismus verstehe ich die Suprematie der reinen Empfindung in der bildenden Kunst.« Elementare Form dieser Vorherrschaft sei das Quadrat: »das Quadrat = die Empfindung, das weiße Feld = das Nichts außerhalb dieser Empfindung.« Aus dieser extremen Reduktionsform leitete Malewitsch alle anderen absoluten, gegenstandsfreien Formen ab: den Kreis durch die rotierende Drehung eines Quadrats, das Dreieck durch Teilung eines Quadrats, das Rechteck durch Teilung und Anstückung eines Quadrats, das Kreuz durch Überlagerung von Rechtecken. Diese elementaren Formen wurden zum immer weiter ausdifferenzierten Repertoire seiner Bildwelt. Letztlich ging es Malewitsch dabei um eine rein immaterielle, intuitive Erkenntnis des Universums jenseits aller Funktionalität von Kunst - im Gegensatz zu Tatlin, der die Kunst für Architektur, Design, Typographie, Bühnenbilder und Mode nutzen und zur »Revolution« der Gesellschaft einsetzen wollte.Viele junge Künstler - unter ihnen Naum Gabo, Antoine Pevsner, Ljubow Popowa, Wladimir Burljuk, Aleksandr Rodtschenko und Warwara Stepanowa - wurden von diesen gegensätzlichen Überlegungen wie auch von der Lehrtätigkeit Tatlins und Malewitschs beeinflusst; sie engagierten sich 1917 für die Oktoberrevolution und bemühten sich um eine praxisorientierte, für die Gesellschaft nützliche künstlerische Produktion, etwa indem sie Buchumschläge und Plakate entwarfen. Da einige der sowjetischen Funktionäre im Konstruktivismus die ästhetische Entsprechung ihrer politischen Konzepte erkannten, wurde diese Stilrichtung zunächst als offizielle Kunst propagiert. Da dann aber Lenin und einige Kader ihren Nutzen bestritten, erfolgte ab 1922 die Umorientierung der Politik in Richtung des »sozialistischen Realismus«. Unter dem Druck der politischen Verhältnisse wanderten viele Konstruktivisten aus und trugen ihre Ideen in den Westen. Als wichtige Vermittler dürfen besonders El Lissitzky, der als Lehrer in der russischen Künstlerausbildung wirkte und Kontakte nach Deutschland wie in die Niederlande unterhielt, und László Moholy-Nagy gelten, der zwischen 1923 und 1928 Professor am Bauhaus war.Auf der Grundlage des Kubismus entwickelten fast gleichzeitig auch einige westeuropäische Künstler geometrisierende Gestaltungsprinzipien. Ihr Sammelbecken und Diskussionsforum war die 1917 in Leiden gegründete und von dem Maler, Architekten und Kunsttheoretiker Theo van Doesburg herausgegebene Zeitschrift »De Stijl«. Diese wichtige Facette des internationalen Konstruktivismus wirkte weit über die Niederlande hinaus - etwa auf das Bauhaus - und verstand sich als Sprachrohr einer neuartigen Gestaltung. Neben van Doesburg identifizierten sich mit den dort formulierten Ideen - zumindest zeitweise - besonders Piet Mondrian, Bart van der Leck, Vilmos Huszár, Friedrich Vordemberge-Gildewart, Georges Vantongerloo, Jacobus Johannes Pieter Oud, Gerrit Rietveld und Cornelis van Eesteren. Als Maler, Bildhauer, Designer und Architekten strebten sie durch radikale Verwendung einfacher, rationaler Strukturen - vorzugsweise geometrischer Formen und Kompositionen, die keinen direkten Bezug zur sichtbaren Gegenständlichkeit aufweisen - eine neue, universelle, alle Lebensbereiche umfassende Gestaltung an.Diesen für die gesamte Gesellschaft erwünschten, jedoch noch nicht erreichten Zustand konnte die bildende Kunst bereits modellhaft verwirklichen, etwa in den Gemälden Mondrians. Mondrian hatte bereits einige Jahre lang durch kubistische Abstraktionen die gegenständliche Malerei zu überwinden versucht, bevor er sie um 1917 völlig aufgab. Er gebrauchte nun nur noch wenige reduzierte Gestaltungselemente: die drei flächig und unmodelliert verwendeten Grundfarben Gelb, Rot und Blau, die unbunten Farben Schwarz und Weiß sowie deren Mischung zu Grauwerten, die er in sparsam verteilten, mit verschieden breiten schwarzen Linien begrenzten Rechtecken nebeneinander platzierte. Mit diesen einfachen Mitteln schuf er eine Synthese von äußerst fein ausgewogener Harmonie reiner Flächenbeziehungen. Jedes Gemälde stellt ein individuelles, durch sorgfältige Komposition jeweils neu bestimmtes, intuitiv gefundenes Gleichgewicht seiner heterogenen Elemente dar.Damit sind Mondrians Bilder nicht nur Ausdruck einer völlig autonomen Bildwelt, sondern auch einer idealen Gegenwelt zur Realität, die auf den gleichen Prinzipien beruht, jedoch nie in so reiner Form erscheint: Aus den drei Grundfarben ergeben sich durch Mischung alle sichtbaren Farben, der Grundgegensatz von Schwarz und Weiß findet sich in »Licht« und »Finsternis« wieder, und das Prinzip der Horizontalen und Vertikalen entspricht der Existenz des Menschen, der aufrecht auf einer ebenen Fläche steht. Mondrian theoretisierte seine Bildsprache, den »Neoplastizismus«, unter anderem in einem 1920 in »De Stijl« veröffentlichten Aufsatz mit dem Titel »Die neue Gestaltung in der Malerei«, in dem er sie als die universelle Ausdrucksform einer neuen, dem Bewusstsein des modernen Menschen entsprechenden, idealen Welt definierte.Wie schon die russische Avantgarde, in der Architekten wie die Brüder Aleksandr, Leonid und Wiktor Wesnin oder Konstantin Melnikow, aber auch Lissitzky, Tatlin und Malewitsch ihre kühnsten Ideen durch utopische Architekturentwürfe auf den angewandten Bereich zu übertragen versuchten, interessierten sich auch die Künstler um »De Stijl« von Anfang an für die bildende Durchgestaltung der menschlichen Lebenswelt. Robert van't Hoff, Jan Wils, Oud, van Doesburg und Rietveld entwarfen, oft in Zusammenarbeit, zahlreiche bis ins Detail durchgestaltete Gebäude und Gebrauchsgegenstände, von denen einige auch realisiert wurden. Mit ihnen prägte die De-Stijl-Gruppe das Aussehen und das Lebensgefühl der modernen Welt, was ihnen letztlich ihren Platz in der klassischen Moderne sicherte.Prof. Dr. Matthias BleylDokumente zum Verständnis der modenen Malerei, herausgegeben von Walter Hess. Bearbeitet von Dieter Rahn. Neuausgabe Reinbek 1995.Die große Utopie. Die russische Avantgarde 1915—1932, herausgegeben von Bettina-Martine Wolter und Bernhart Schwenk. Ausstellungskatalog Schirn-Kunsthalle Frankfurt. Frankfurt am Main u. a. 1992.Kunst des 20. Jahrhunderts, herausgegeben von Ingo F. Walther. 2 Bände. Köln u. a. 1998.Thomas, Karin: Bis heute. Stilgeschichte der bildenden Kunst im 20. Jahrhundert. Köln 101998.Warncke, Carsten-Peter: Das Ideal als Kunst, De Stijl 1917—1931. Neuausgabe Köln u. a. 1998.
Universal-Lexikon. 2012.